Porträtkunst im alten Griechenland

Porträtkunst im alten Griechenland
Porträtkunst im alten Griechenland
 
Viele Statuen der archaischen Epoche stellten Bildnisse bestimmter Personen dar. Sei es, dass man das Andenken an einen Verstorbenen in einem Bild wach hielt, sei es, dass ein erfolgreicher Bürger den Dank an die Götter in einer stolzen Selbstdarstellung zum Ausdruck brachte. Identifizierbar war die dargestellte Person allerdings allein durch eine entsprechende Inschrift. Da kaum eine Statue in Verbindung mit ihrer Inschrift gefunden wurde, sind all diese »Porträts« für uns anonym. In der ostgriechischen Kunst war es üblich, die Namen in die Statue selbst einzumeißeln. In diesen Fällen wird freilich offenbar, dass keines dieser Bildnisse auch nur im entferntesten eine Ähnlichkeit mit der dargestellten Person anstrebte. Charakterisiert wurde lediglich seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht.
 
Die für die archaische Epoche charakteristische starre Typenbindung wird im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. zugunsten einer größeren Vielfalt aufgebrochen. Jetzt begegnen wir Bildwerken, die sich unverwechselbar voneinander unterscheiden. Die gesamte Prominenz der griechischen Welt ist in Porträts bezeugt, die man sich einprägen und stets wiedererkennen kann. Was sich auf den ersten Blick wie das Einfangen einer individuellen Physiognomie ausnimmt, ist bei Lichte besehen aber unverändert ein kunstvolles Arbeiten mit bestimmten Formeln. Das Streben nach realistischer Wiedergabe der Natur war der griechischen Kunst - auch der Porträtkunst - fremd. Neu gegenüber der älteren Bildniskunst ist die feinere Differenzierung der eingesetzten Formeln. Die Anspielungen auf die spezifische Tätigkeit der Dargestellten werden vielfältiger.
 
Ein eindringliches Beispiel dieser neuen Porträtkunst liefert das Bildnis des Homer. Die großen epischen Werke, als deren Schöpfer man Homer feierte, die Ilias und die Odyssee, sind im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Als man im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. erstmals ein Bildnis Homers schuf, gab es natürlich keinerlei Informationen über das Aussehen dieses Mannes, um den sich überdies längst zahllose Legenden gebildet hatten. Eine dieser verklärenden Geschichten um Homer besagte, er habe die Götter in seinen Gedichten so »hautnah« geschildert, dass er sie mit eigenen Augen gesehen haben müsse. Als Folge dieses Ausblicks in die außermenschliche Sphäre sei er erblindet. So entstand die Bildschöpfung eines würdevollen blinden Greises.
 
Wie in der archaischen Epoche, wollen auch die Porträts der nachfolgenden Jahrhunderte nicht das Aussehen des Dargestellten wiedergeben. Sie informieren allein darüber, auf Grund welcher Leistungen eine Person mit einem Erinnerungsbild geehrt wurde. Dabei ist der Gesichtsausdruck meist weniger aussagekräftig als die Körpersprache insgesamt. Der wahre Charakter der griechischen Porträts erschließt sich daher erst bei Kenntnis der vollständig erhaltenen Statue.
 
Ein an vielen Fürstenhöfen des 6. Jahrhunderts v. Chr. umworbener Dichter und Sänger war Anakreon. In seinen Gedichten pries er die Lebensfreude und den Genuss von Liebe und Wein. Obwohl er ein Repräsentant jenes Systems war, das man in Athen lange bekämpft und mit der Einführung demokratischer Strukturen schließlich überwunden hatte, erhielt Anakreon auch auf der Akropolis von Athen eine Ehrenstatue. Gleichzeitig mit dem Bildnis des Perikles geschaffen, ist das Gesicht des Lyrikers dem des Politikers unmittelbar verwandt. Sein Wesen wird durch die eigenwillige Körperhaltung charakterisiert. Der in sich leicht gewundene Körper hat einen labilen Stand. Hier ist ein Mann im Zustand der berauschten Entrückung dargestellt - eine Voraussetzung für die Inspiration des Dichters und den überzeugenden Vortrag des Sängers, der seine beim Gelage vereinten Zuhörer mitreißen will.
 
Über die Aussage der Körperdarstellung spricht uns auch die Porträtstatue des Demosthenes an. Mit seinen politischen Reden versuchte Demosthenes in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. seine Heimatstadt Athen von einem Zweckbündnis mit dem Königshaus der wenig geliebten Makedonen abzuhalten. Er scheiterte. Erst 40 Jahre nach seinem verzweifelten Freitod wurde Demosthenes in Athen durch die Errichtung einer Ehrenstatue rehabilitiert. Mit dem Bildnis bekundeten die Athener ihre Reue, seinen besonnenen Worten kein Gehör geschenkt zu haben. Aus antiken Nachrichten wissen wir, woran man den vertrauenswürdigen Redner von dem demagogischen Schwätzer zu unterscheiden gelernt hatte: wessen Worte leer waren, bedurfte ausfahrender Gesten, wer seine Überzeugungskraft allein aus dem Inhalt seiner Rede schöpfte, war an den ruhig gehaltenen Händen erkennbar. Die Porträtzüge der Demosthenes-Statue liegen also in den verschränkten Händen. Ein verwandtes Motiv zur Kennzeichnung der Selbstbeherrschung zeigt die Statue des Redners Aischines mit dem fest in den Mantel eingschnürten Arm.
 
Sokrates, dessen Philosophie die Athener Gesellschaft im ausgehenden 5. Jahrhundert v. Chr. dermaßen irritierte, dass sie den unerbittlich Fragenden im Jahr 399 schließlich zum Tode verurteilten, ist mit zwei unterschiedlichen Porträts geehrt worden. Das spätere, um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. entstandene offizielle Porträt ist das Bild eines ehrenhaften athenischen Bürgers in der Würde des Alters, mit schütterem Stirnhaar, aber vollem gepflegtem Bart. Identifizierbar ist auch dieses Bild allein mithilfe der auf Marmorkopien erhaltenen Inschriften. Anders verhält es sich mit dem schon bald nach seinem Tod von Freunden in Auftrag gegebenen ersten Porträt. Sokrates nimmt die Erscheinung eines mythischen Wesens an: er trägt die Züge eines hässlichen Silens, des bocksgestaltigen Inbegriffs der erzieherischen Weisheit und Schläue. Es ist eine zweifach geistvolle Anspielung auf den Charakter des Sokrates: es verschweigt nicht seine sprichwörtliche Hässlichkeit und überhöht ihn zugleich als über das menschliche Normalmaß hinausreichenden Pädagogen. Es ist bezeichnend für den ausgeprägten Hang der griechischen Portätisten zur idealisierenden Abstraktion, dass ein solch »sprechendes« Bildnis alsbald durch ein normiertes Porträt ersetzt wurde.
 
Prof. Dr. Ulrich Sinn
 
 
Zanker, Paul: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst. München 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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